23.11.2021
- FILM - KAISER HAILE SELASSIE I.
SEINE BEISETZUNG UND DIE RASTAFARI IN SHASHAMANE, ÄTHIOPIEN
Eine zweiteilige Dokumentation
„King of
Kings,
Everliving!“ Rezension zur
Video-Dokumentation vom Haile Selassie
„Burial“
und den Stimmen der Rastafari von
Shashamanei
Werner Zips
Obwohl bereits 1975 von der Ermordung Haile
Selassie I durch äthiopische Putschisten berichtet wurde, fand
die Beisetzungsfeier erst im November 2000 in Addis Ababa statt. Noch
mal zwanzig Jahre später hat die ethnologische Abteilung des
Max-Planck-Instituts einen zweiteiligen Film darüber
veröffentlicht. Der erste Teil dokumentiert die Zeremonie
selbst, der zweite befasst sich mit der Sicht der Rastafari auf das
Ereignis, das für sie in krassem Widerspruch zu ihrem Konzept
von Divinität steht.
Part I: The
Burial of Emperor Haile Selassie I
Ein Film von Verena Böll, Georg Haneke und Günther
Schlee
Einleitung
Der Film über die Beisetzung Haile Selassies ist ein
historisches Dokument von unschätzbarem Wert. Über
ein Viertel Jahrhundert, nach dem vom Militärrat Derg
verlautbarten, „Tod“ Haile Selassies (im Jahr 1975)
willigte die Politik nach langem Tauziehen mit der königlichen
Familie ein, Äthiopiens letztem König der
Könige die letzte Ehre erweisen zu lassen. Sie galt dem
„Vater des Friedens“, wie ihn eine amharische
Aufschrift auf einem eigens zu diesem Anlass angefertigten Kunstwerk
würdigte. Es stellte ein Portrait Haile Selassies in den
Konturen des afrikanischen Kontinents dar, das auf Tierhaut gemalt und
mit einer aus Holz geschnitzten Krone versehen wurde.
Portrait
Haile Selassies auf den Konturen von Afrika an der Holy Trinity
Cathedral
Zwar war die Kamera von Günther Schlee und Georg Haneke bei
weitem nicht die einzige während der Zeremonien am 5.11.2000,
wie die Bilder filmender und fotografierender Teilnehmer*innen deutlich
zeigen. Aber der entstandene 45 Minuten-Film liefert vermutlich die
einzige derartig umfassende Dokumentation dieses in mancher Hinsicht
durchaus mythischen Ereignisses. Es eignet sich daher auch als
Zeitdokument, das jeder allfälligen zukünftigen
Mythenbildung ein realistisches Bild entgegenzusetzen vermag.
Links: Das
Film-Team, Ambaye Ogato und Verena Böll, zusammen mit dem
Rastafaris Ras
Gyone und Wubshet vor ihrer Hütte in Shashamane, Ethiopia,
Oktober 2018. Rechts: Cover vom
Booklet der Haile Selassie I Dokumentation
Dessen Fertigstellung durch Angehörige des
Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle nahm
beinahe zwanzig Jahre in Anspruch. Einer der wichtigsten
Gründe für diese lange Produktionszeit war wohl das
Bewusstsein, dass ein derartiges Dokument nicht ohne die Stimmen jener
veröffentlicht werden sollte, die das Gedenken an Haile
Selassie über viele Jahrzehnte hinweg hochhielten und den
König der Könige letztlich unsterblich machten:
Rastafari in Jamaika, Äthiopien und im Rest der Welt. Allen
voran Bob Marley and
The Wailers, die nur Tage nach der Todesnachricht
durch die äthiopischen Putschisten vom 27. August 1975 den
Song Jah Live
(1975)ii einspielten:
“Fools
say in their hearts Rasta, your
God is dead But I and I
know, Jah Jah Dread it
shall be dreaded and dread (…) Jah Jah
live, children, yeah Let Jah
arise Now that the
enemies are scattered”
Vorgeschichte
und Kontext
Der eigentlichen Beisetzung am 5. November 2000 ging eine Gedenkmesse
am 2.11.2000 in der Entoto Mariam Kirche voraus – auf den Tag
genau 70 Jahre nach der Krönung Haile Selassies. Es hat tiefe
symbolische Bedeutung, dass dieser Gedenkgottesdienst zudem an jenem
Ort stattfand, an dem am 5. Mai 1941 die feierliche
Willkommenszeremonie für den widergekehrten King of Kings nach
dem Sieg über das faschistische Italien abgehalten wurde.
Darüber schreibt Haile Selassie in seiner Autobiographie (Part
II, S. 160): „Wir konnten unsere Tränen und
innigsten Emotionen nicht kontrollieren.“iii
Auszüge
aus der offiziellen Funeral Invitation für den 5. November
2000 (Seite 5, 7, 2, 4)
Die Kaiser
Haile Selassie I Memorial Association (EHSIMA) in Addis Ababa, sammelt
das schriftliche und visuelle Material über
Haile Selassie. Zusammen mit der Familie und
der Patriots Association, organisierte
sie die Beisetzung von Haile Selassie.
Auf den Tag genau 70 Jahre nach der Krönung Haile Selassies
dokumentieren die Filmaufnahmen dieselben Gefühle bei
Angehörigen der Arbegnoch
(amharisch für Patrioten), die möglicherweise noch in
jener Eliteeinheit gedient hatten, die unter dem Code-Namen Gideon Force
bekannt wurde. Ihre Tränen fließen am liturgischen
Höhepunkt des feierlichen Rituals rund um die Aufbahrung des
Sarkophags vor der Kirche der Heiligsten Dreifaltigkeit.
Im wichtigen Teil II drücken Vertreter dieser
Patrioten-Verbände und Familienangehörige ihre tiefe
Zufriedenheit über die feierliche Zeremonie aus. Über
ein Vierteljahrhundert lang kämpften sie gegen die weltlichen
äthiopischen Machthaber um die „letzte
Ehre“ für den Emperor. Dazu gehörte, dass
der Sarkophag von einer äthiopischen Flagge mit einer
Abbildung von Haile Selassie auf seinem geliebten Schimmel bedeckt war.
Er wurde von Adeligen in traditionellem Ornat und äthiopischen
Feldherren (Dejazmatches)
in den königlichen Uniformen mit ihren Kopfbedeckungen aus
Löwenmähnen getragen.
Der
Prozessionswagen während der Feierlichkeiten auf dem Meskel
Square
Mit ihren langen vielfarbigen Gewändern – von Dennis
Brown im Albumtitel „Joseph’s Coat of Many
Colours“ (1980) verewigt – und ihren zeremoniellen
Schulter-Capes mit dem Emblem des Siegreichen Löwen von Juda
gemahnten die Noblen an die glorreichen Zeiten des Kaiserreichs. Davon
wollte die politische Elite Äthiopiens zum damaligen Zeitpunkt
nichts hören. Sie glänzte vielmehr durch
demonstrative Abwesenheit.
Doch die passive Duldung der Regierung gestattete den Organisatoren,
die Erweisung der „letzten Ehre“ ganz nach ihren
Vorstellungen zu gestalten. Die Beisetzungszeremonie begann vor der
St.-Georgs-Kathedrale von Addis Ababa. Dort war Haile Selassie I
gemeinsam mit Empress Menen Asfaw am 2. November 1930 in einem
ganz-tätigen Ritual gekrönt worden. Dieser Akt
markierte die globale Ausstrahlung des Negusa Nagast durch eine bis
dato unbekannte mediale Aufmerksamkeit für einen
nicht-europäischen Monarchen und die Repräsentanz
aller bedeutenden europäischen Nationen.
Am Vorabend der damaligen Feierlichkeiten ließ Haile
Selassie, in der Nähe der Kathedrale, die vom deutschen
Architekten Curtin Specingler errichtete Reiterstatue von Menelik II.
enthüllen. Zur Ehrung und als Erinnerung an die erste
historische Schmach durch den früheren siegreichen
König der Könige in der Schlacht von Adua gegen die
Italiener (1896). Im Lichte der späteren gemeinsamen Befreiung
Äthiopiens durch gemischte britisch-äthiopische
Regimenter (1941) beim zweiten italienischen Kolonialisierungsversuch
Äthiopiens ist es bedeutsam, dass Haile Selassie (wie er in
seiner Autobiographie; Pt. I, S. 175 schreibt) dem dritten Sohn des
britischen Monarchen Georg V., Prinz Henry William Frederick Albert I.,
Duke of
Gloucester, die Ehre zukommen ließ, das Denkmal
für Menelik II. zu enthüllen.iv
Vermutlich war die Krönungs-Kathedrale auch aus diesem Grund
von den italienischen Faschisten, wie so viele andere
Gotteshäuser auch, im Jahr 1937 gebrandschatzt worden. Nach
der Schmach von Adua sahen sie in dem Denkmal, das im Beisein des
königlichen italienischen Repräsentanten, dem Prinzen
von Udine, am Vorabend der Krönung Haile Selassie I. und Menen
II. sieben Jahre zuvor enthüllt wurde, eine weitere
Erniedrigung. Nach der Befreiung Äthiopiens 1941
ließ Haile Selassie die St.-Georgs-Kathedrale umgehend
restaurieren. Sie war ursprünglich unmittelbar nach der
erfolgreichen Schlacht von Adua (1896) im Auftrag Kaiser Meneliks II
errichtet worden, zur Erinnerung an den Sieg einer, deutlich schlechter
bewaffneten, äthiopischen Armee gegen den nur scheinbar
überlegenen italienischen Gegner.
Ihr Gründungsmythos beruht auf ihrem Tabot. Denn der Tragaltar
des Heiligen Georg, dem die Kathedrale geweiht ist, soll der
Überlieferung nach auf das Schlachtfeld von Adua gebracht
worden sein, um den Sieg und damit den Erhalt der Freiheit
Äthiopiens zu gewährleisten. Es handelt sich um einen
der bedeutendsten Tabots der äthiopisch-orthodoxen Kirche, der
allgemein auf die Gesetzestafel der Zehn Gebote und die biblische
Bundeslade verweist.
Das
Historische Event für den „Vater des
Friedens“
Das respektvoll (sichtbar aus der zweiten Reihe) gefilmte Dokument
belegt, dass es kein staatliches oder weltliches Ereignis im engeren
Sinn war, sondern eine Familienfeier im Beisein der engsten Vertrauten
und Sympathisant*innen unter dem „Baldachin“ der
äthiopisch-orthodoxen Kirche. Als deren Guardian
(Wächter) I galt Haile Selassie. Nicht zuletzt, weil er im
Jahr 1959 die Eigenständigkeit der Ethiopian Orthodox Tewahedo
Church von der koptisch-orthodoxen Kirche Alexandriens
(Ägypten) erzielt hatte, unter ihrem ersten Patriarchen Abuna
Basilios.
Die offiziellen Veranstalter waren: die Kaiser Haile Selassie I
Erinnerungsstiftung (Emperor
Haile Selassie Memorial Foundation), der Kronrat im Exil (Crown Council in Exile),
die Kriegsveteranen-Vereinigung (War
Veterans Association) und jener Teil der
königlichen Familie, der die marxistisch-leninistische
Militärherrschaft im Exil (1974 – zumindest 1991)
überlebt hatte. Bereits zwischen 1975 und 1977 ließ
der Derg zehntausende Oppositionelle und vermeintliche Gegner der
sozialistischen Umgestaltungen sowie Angehörige der
früheren Herrschaftsschicht verhaften, foltern und
exekutieren. Asfa-Wossen Asserate spricht von 500.000 sogenannten
„Klassenfeinden“ in Äthiopien zwischen
1979 und 1989 ermordet wurden.v
Obwohl es sich also bei der nachgeholten Beisetzung Haile Selassies um
alles andere als eine „Babylon-Inszenierung“ im
Rastafari Verständnis gehandelt hat, dürften nur
relativ wenige Rastas daran teilgenommen haben. Auf den Bildern vom 5.
November 2000 sind jedenfalls weder Rita Marley noch die hunderten
Rastas zu sehen, von denen Asfa-Wossen Asserate schreibt. Vielleicht
waren sie bei den Gedenkfeiern in der Entoto Mariam Kirche am
02.11.2000 anwesend. Das wäre schließlich auch jener
Feiertag, der weltweit von Rasta-Communities als Coronation Day mit
Nyahbinghis gefeiert wird.
Die
Prozession trifft an der Holy Trinity Cathedral ein
Vor der eigentlichen Beisetzung im nördlichen Querschiff der
Kathedrale der Heiligsten Dreifaltigkeit (Holy Trinity Cathedral),
nach der großen Prozession vom Meskel Platz im Stadtzentrum,
standen die höchsten geistlichen
Würdenträger, orthodoxen Priester, Mönche,
Kirchen-Musiker, sowie die vielköpfige Chor- und Tanzgruppe
(genannt Dabtara)
im Zentrum. Letztere erinnerten in ihren weißen
Gewändern und Turbanen schon auf den ersten Blick an
jamaikanische Bobo Shanti.vi
Sogar ihr wiegender Tanz zu den Klängen einer großen
Basstrommel gemahnte stark an die wöchentlichen
Sabbath-Zeremonien im Tabernakel oder „New Jerusalem School
Room“ des Bobo Headquarters von Bull Bay (Jamaika). Mit
alttestamentarischem Bezug wird dieses Hauptquartier als
„Royal Ethiopian Embassy in Egypt“ bezeichnet,
wobei das biblische Ägypten für das moderne Jamaika
als Ort der Versklavung und Gefangenschaft der Black Israelites aus dem
biblischen Äthiopien (Afrika) steht. Schon der volle Name der
Bobos weist auf die Identifikation mit Äthiopien hin: Ethiopian Black International
Congress Church of Salvation.
Musik und
Tanz zum Empfang des Sarkophages an der Holy Trinity Cathedral
Nach der Ehrerweisung durch die Dejazmatches (Warriors) und die
Kirchenmusiker (Singers
and Players of Instrument) oblag es dem Oberhaupt der
äthiopisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Abuna Paulos, die
Würdigung von Haile Selassie vorzunehmen. Seine Rede ehrte die
leibliche „Macht der Dreifaltigkeit“ (amharisch
für den Krönungsnamen Haile Selassie), sinnbildlich
vor der Kirche der Heiligsten Dreifaltigkeit, als dem letzten Ruheort
der sterblichen Hülle. Allein deshalb wäre der Film
bereits ein überaus wichtiges historisches Dokument.
In seiner Ansprache erinnerte Abuna Paulos nochmals an die
„große Lektion“, die Haile Selassie der
Welt durch seine Völkerbund-Ansprache im Jahr 1936 erteilt
hatte. Dass sie auf taube Ohren der europäischen Delegierten
stieß, wird von Rastafari als Auslöser des Zweiten
Weltkrieges durch die faschistische Invasion Äthiopiens (1935)
verstanden. Darüber hinaus strich der Patriarch Haile
Selassies Bedeutung für die Befreiung Afrikas vom Joch des
Kolonialismus hervor. Und schließlich offenbarte er, dass
Haile Selassie selbst an diesem heiligen Ort beigesetzt werden wollte,
neben Kaiserin Menen.
Haile
Selassies Enkel und Urenkel übernehmen den Sarkophag und
tragen ihn in die Kirche.
In diesem Sinn hat die Beisetzung an der Seite seiner geliebten Gattin
vielleicht auch für jene Rastas etwas tröstliches,
die den Gedanken der leiblichen Vergänglichkeit des Menschen
Haile Selassies für unvereinbar mit der Unsterblichkeit Gottes
– Jah Rastafari – halten. In den Worten des
Patriarchen mag dafür ein Ansatzpunkt zu finden sein:
„Sein Name wird unsterblich bleiben“.
Prinz Beede
Mariam Mekonen (Enkel von Kaiser Haile Selassie I), schaut
sich Teil 1 der Dokumentation an (Oktober 2018, Addis Ababa).
Hier Part I
des Films bevor wir zur Rezension von Part II kommen:
Film:
Part
I - The
Burial of Emperor Haile Selassie I
Part II:
Emperor Haile Selassie I and his ‘Burial’
Perspectives of the Rastafarians in Shashamane, Ethiopia
Ein Film von Verena Böll, Ambaye Ogato und Robert Dobslaw
Einleitung
Dass dieses Filmprojekt fast zwei Jahrzehnte in Anspruch nahm,
hängt wohl primär mit der ethischen Dimension
zusammen. Es waren vor allem Rastafari, die Haile Selassie seit seines
vom Revolutionsrat Derg
(1975) berichteten „Todes“ am Leben erhielten:
durch unzählige Reggae Songs, Bücher, Reden,
mehrwöchige Zeremonien wie Nyahbinghi, Performances in Film,
Theater, Tanz u.v.m. Für die allermeisten von ihnen steht
allein die Idee der „Bestattung“
(„Funeral“ oder „Burial“) im
Widerspruch zu ihrem Konzept von Divinität. Ein Film
über die Bestattung des Kaisers kann demnach leicht als
verletzende Provokation verstanden werden.
Den Filmemacher*innen war dieses Dilemma höchst bewusst. Daher
wollten sie das historische Dokument nur mit einem Zweiten Teil, der
überwiegend der Rasta-Perspektive gewidmet ist,
veröffentlichen. In diesem Sinn stellt der
ausschließlich in Shashamane, Äthiopien, gedrehte
Part II das notwendige und unverzichtbare Pendant dar, um die
„Burial“-Zeremonie aus dem
Rasta-Verständnis adäquat einordnen zu
können.
Shashamane
– Rastafari Enklave in Äthiopien
Shashamane ist ein Schlüsselort für das globale
Vorhaben der Repatriierung. Denn dieses 500 Hektar große Land
wurde Angehörigen der Afrikanischen Diaspora, insbesondere der
internationalen Rasta-Community, von Haile Selassie persönlich
bereits im Jahr 1948 gewidmet. Nach der offiziellen Mission to Africa-Delegation
von Rastafari und staatlichen Abgesandten aus Jamaika im Jahr 1961 und
dem anschließenden Staatsbesuch Haile Selassies in Jamaica
(im April 1966) waren es vor allem Rastafari, die nach Shashamane
re-migrierten – nach 400 Jahren Versklavung.vii
Aus mehrheitlicher Rasta-Sicht bedeutet das jedoch eine bloße
individuelle Rückwanderung, die allenfalls eine
Vorbereitungshandlung zur geforderten Repatriierung darstellt. Als
offizielle Repatriierung wird von Rastafari nur die
völkerrechtliche Rücksiedlung nach Afrika anerkannt,
finanziert durch die Nachfolgestaaten jener Mächte, die
für die Versklavung verantwortlich waren.viii
Eine
Kreuzung auf der Hauptsraße in Shashamane - Oktober 2018
Für das aufwendige Projekt mit Dreharbeiten in mehreren
aufeinanderfolgenden Jahren (2012, 2013, 2017, 2018, 2019) ist den
Gestalter*innen Verena Böll, Ambaye Ogato und Robert Dobslaw
gar nicht genug zu danken. Vor allem ihr Ansatz des partizipativen
Filmemachens garantiert, dass die Stimmen der Rastafari jenes
Gehör erhalten, das sie verdienen. Darin besteht mehr als ein
semantischer Unterschied zum paternalistischen Ansatz des
„Jemand eine Stimme geben“. Rastafari besitzen ja
Stimmen, gehört werden sie nur nicht entsprechend, zumindest
nicht außerhalb des „Reggaeversums“.
Insbesondere bei ethnographischen Film-Projekten hat sich dieser
Standard des kooperativen Filmemachens mittlerweile etabliert. So
wurden Angehörige der Shashamane-Community in die
unterschiedlichen Stadien involviert. Die mehrfachen Reisen nach
Shashamane dienten feedback-Schleifen und der inhaltlichen Anteilnahme
und Kontrolle der Rastafari am Endresultat des
veröffentlichten Films.
Daraus entstand deutlich mehr – im Sinne von gehaltvolleres
– als die bloße Abfrage von Meinungen. Part II gibt
den philosophisch-spirituellen Gedankenwelten der
Rastafari-Gemeinschaft zum Ewigen Leben (Life Everliving)
breiten Raum. Es handelt sich damit um einen Interview-basierten Film.
In den Reasonings
werden Überlegungen zu Leben und Tod weit über den
engeren Kontext des Haile
Selassie Funeral vorgebracht. Sie geben Zeugnis ab von den
Todesvorstellungen jener Gruppe von Rastafari in Shashamane, die der
Endlichkeit des Lebens eine Absage erteilen.
Nach meinen Erfahrungen sind diese repräsentativ für
die generellen Haltungen von Rastafari, wenngleich eine breitere
Nachforschung, vor allem in Jamaika interessant gewesen wäre.
Ihre Perspektiven konzentrieren sich – für Reggae
Fans wenig überraschend – auf die allumfassende Livity. Damit ist
eine Idee einer Lebensweise und Lebensführung verbunden, die
Generationen übergreifend ist. Das Rasta-Leben endet demnach
nicht mit dem Tod, sondern bedeutet ein Weiterleben in der Gemeinschaft
aller lebenden und zukünftigen Generationen – in
anderen Worten: I and I.
Auf Haile Selassie I trifft das im Besonderen zu, im
uneingeschränkten und insofern „absoluten“
Sinn.
Auf die Frage, ob Emperor Haile Selassie denn tot sei, antwortet Sister
Ijahnya Christian im Film, dass das eine Frage sei, die auf der Annahme
basiere, dass His
Imperial Majesty von uns gegangen wäre. Und daher
nur mehr erinnert werden könne. Dabei würde er
Rastafari niemals verlassen. Im Wortlaut: “I’m not
in the business of remembering. I am in the business of living and
learning from the example set by His Majesty. So that he will never go.
He will never, actually never ever, leave us.”
Diskussion
unter den Rastafaris Ras Kawintseb,
Jaden und Alemtsega, während der Vorführung von Teil
1 der Dokumentation.
Der Film schafft Klarheit über die Differenzen in den
Gottesvorstellungen von Rastafari und des
äthiopisch-orthodoxen Christentums. Darüber mag man
tausend-seitige Abhandlungen schreiben können, auf einen Satz
verdichtet, bestehen sie in der Verkörperung Gottes in allen
Lebenden. Insofern lebt Gott nach Rasta-Verständnis in der
immerwährenden Schöpfung, in ihren menschlichen und
sozialen Erscheinungsformen – in der Gemeinschaft aller
Rastafari: I and I.
“Creation
is ever living!”
Ras Kabinda drückt es im Film so aus (meine
Übersetzung): „Yeah, wir machen uns keine Gedanken
über den Tod. Diese „Todeslehre“
entspringt einer anderen Meditation (oder Vorstellung) vom Menschen.
Wir werden geboren, um als Menschen zu leben. Haile Selassie wird daher
in alle Ewigkeit weiterleben. Morgen wird er ein Stern am Himmel sein.
Doch mit dieser Todeslehre wollen sie dir etwas ins Gehirn
einhämmern. Damit Du die Schöpfung nicht
respektierst. Die Schöpfung kennt keinen Tod.
Schöpfung bedeutet ewiges Leben, Yeah!“
Ras Kabinda
(Zweiter von links) und Ras Fwè
Jah Jah (Zweiter von rechts) sitzen in ihrem Wohnzimmer mit anderen
Rastafaris zusammen und schauen Teil 2 der Dokumentation.
Ras
Kawintseb, ein Rastafari-Musiker, ist bekannt für seine
nackten Füße.
Die
Rastafaris Alex und Sandrine sitzen mit ihrem Sohn am Tisch in
ihrer Zion Train Lodge und schauen den Entwurf zum Teil 2 der
Dokumentation an. Ihre Reaktionen und Kommentare
wurden in die endgültige Version aufgenommen. Die Rastafari
schätzen es, an der Herstellung des Dokumentarfilms mitwirken
zu können.
Immer wieder werden Rastas nicht zuletzt in Jamaika und
Äthiopien ironisch gefragt, wo sich denn Haile Selassie heute
aufhalte, wenn er denn, wie behauptet, immer noch am Leben sei. Darauf
antwortet Sister Ijahnya Christian mit gewinnendem Lächeln:
„Aber Du redest doch mit Rastafari als einem lebenden Ich.
Seine Imperiale Majestät Haile Selassie I und Ihre
Majestät Empress Menen leben nicht nur fort, sondern leben
immer wieder aufs Neue in den Herzen von I and I.”
Manche der, meiner Meinung nach, eher scheinbaren Widersprüche
zwischen Äthiopier*innen und Rastafari, die sich in Shashamane
als aus dem Exil heimgekehrte Äthiopier*innen verstehen,
lassen sich relativ leicht auflösen, wenn die Differenzen im
Reasoning verflüssigt werden. Letztlich ging es bei dem
Beisetzungsritual um die Würdigung der Leistungen und
Persönlichkeiten von Emperor Haile Selassie und Empress Menen
als ein in die Zukunft gerichtetes Vermächtnis.
Die Bobo Shanti schrieben in einer ihrer Publikationen, dass ihr
Hohepriester King Emmanuel Charles Edwards, als Teil der Dreifaltigkeit
mit Haile Selassie und Marcus Garvey, am 31. Mai 1994 eine
unergründliche Reise (in der göttlichen mystischen
Tradition) antrat und damit seine treuen Diener*innen
zurückgelassen habe, um ihre von Gott erhaltenen Talente
einzusetzen und zu vermehren (EABIC 1998).ix Auf
eine ähnliche
gemeinsame Formel scheinen bei emphatischer Betrachtung sowohl die
offiziellen Reden bei der „Beisetzung“ als auch die
meisten Rastafari-Interviews hinauszulaufen.
In jedem Fall verbindet äthiopische und Rastafari-Perspektiven
zum „King of
Kings, Everliving“ die wichtige Einigkeit
über die Notwendigkeit von Einheit. Diese Synopse
erschließt sich auch aus den Interviews dieses Films. In den
Worten des Rastaman Jaden hört sich das so an:
„Haile Selassie, he worked to bring this continent together.
And that’s the best thing he do, because he … see
the solution to make ourselves unite, you know. And Haile Selassie do
that. No one do it before him, no one do after him. The colour of Rasta
is unity.” Bei Asfa-Wossen Asserate solchermaßen:
„Wir brauchen in Äthiopien das Motto:
„Einheit in Verschiedenheit und Verschiedenheit in
Einheit.“x
Hier Part II
des Films:
Film: Part II: Emperor Haile Selassie
I and his ‘Burial’
Auf dem Startbild sind Ras Iron Gad, Sister Ijahnya Christian und Elder
Zion Gad zu sehen
(von links nach rechts).
i
Eine kürzere Version dieses Textes erschien in RDDIM No
02/2021 (Ausgabe 105). ii
Bob Marley & The Wailers: Jah
Live (Single, Tuff Gong/Island Records 1975). iii
Haile Sellassie: My
Life and Ethiopia’s Progress Volume 2: Addis Ababa 1966. An
Autobiography of Emperor Haile Sellassie I, King of Kings, Lord of
Lords, Conquering Lion of Judah. Volume II. (English
translation and annotations: Harold G. Marcus and Ezekiel Gebissa),
Frontline: Chicago 1999. iv
Haile Sellassie: My
Life and Ethiopia’s Progress, Autobiography of Emperor Haile
Sellassie I, King of Kings, Lord of Lords, Conquering Lion of Judah.
Volume I: 1892 – 1937. (English translation and annotations:
Edward Ullendorff, Frontline: Chicago 1997 (Orig. 1976). v
Asfa-Wossen Asserate: Der
letzte Kaiser von Afrika. Triumph und Tragödie des Haile
Selassie (2016: 354). vi
S. dazu genauer Werner Zips: Hail
di Riddim. Reportagen aus dem Reggaeversum JamaicAfrica
(2015). vii
Die 23-seitige Publikation “Report of Mission to
Africa” stellt ein besonders aufschlussreiches Dokument
für die Rastafari Forderung nach Repatriierung dar, weil sie
die Stimmen der drei Rasta Teilnehmer Filmore Alvaranga, Douglas Mack
und Mortimer Planno als (Rastafari) Minority Report
ausweist (Government Printer, Kingston 1961). viii
S. dazu genauer Werner Zips: Repatriierung als rechtlicher Anspruch?
Der Kampf von Rastafari zur endgültigen Zerstörung
der Sklaverei. In: Werner Zips (Hg.): Rastafari – eine
universelle Philosophie im 3. Jahrtausend“ (2010). ix
Ethiopia Africa Black International Congress Church: 40th Congress Anniversary
Celebration Bulletin (Bull Bay 1998). x
Gerade vor dem aktuellen politischen Hintergrund des im Jahr 2020
begonnenen Bürgerkrieges in Äthiopien erscheint es
höchst angebracht, das Schlusswort dieser Rezension
Asfa-Wossen Asserate zu überlassen. Nicht zuletzt, weil er der
Verfasser der m.E. bis heute umfassendste und empirisch gehaltvollste
Biografie über Haile Selassie ist: Der letzte Kaiser von Afrika.
Triumph und Tragödie des Haile Selassie. Berlin:
List 2016.
Zum Autor:
Werner Zips ist Herausgeber des Buches „Rastafari –
eine universelle Philosophie im 3. Jahrtausend“ (Promedia,
2010) und Autor von „Hail di Riddim – Reportagen
aus dem Reggaeversum JamaicAfrica“ (Promedia, 2015).
Diese Werke sind nur eine Auswahl aus zahlreichen
Veröffentlichungen, da sie zum Thema passen.
Weitere
Informationen zu dem Filmprojekt:
Booklet zur DVD, Postkartensammlung mit Filmmotiven und sogar die
Downloads
zum Fim findet ihr hier.
Copyright:
www.reggaestory.de
Alle hier eingebundenen Fotos und Videos wurden mit Genehmigung
des Projektteams und des Max-Planck-Institut für ethnologische
Forschung in Halle (Saale), veröffentlicht.